Haben

Wie sie alles aus der Haben-Perspektive betrachten. Für sie ist alles nur eine Geschichte, die sie nicht zu erzählen haben. Sie sehen nicht das Leid, das sie nicht erlitten haben, sondern nur ihren Mangel an Aufmerksamkeitserheischungsmaterial. Und so wähnen sie sich für den öffentlichen Diskurs im Nachteil und sind um Nachteilsausgleich bemüht, was sich hauptsächlich so äußert, dass sie alle kleinen Alltagsungerechtigkeiten und Zumutungen umdeuten und überhöhen, bis sie dazu geeignet erscheinen, sich selbst als Opfer oder andere als Täter darzustellen. Das haben sie sich bei tatsächlich marginalisierten Menschen abgeschaut, die ja in ihren Augen auch nichts anderes tun, als völlig infinitesimale und zufällige Alltagsereignisse so überdreht egoistisch darzustellen, bis sich daraus (bestenfalls: systemische) Ungerechtigkeit und Aufmerksamkeit generieren lässt.

Sie werfen sich das Opfernarrativ über, wie ein Designer-Cape. Schaut mal, hab ich jetzt auch. Ich spüre diese Perspektive überall dort, wo privilegierte weiße Menschen mit Reichweite Tweets und offene Briefe schreiben, als ob sie sonst keine Möglichkeiten haben, ihre egoistischen Perspektiven in den Diskus einzubringen. Als ob ihre Perspektive nicht sowieso die dominante Perspektive wäre und ihnen irgendjemand irgendetwas wegnähme. Wenn es doch nur endlich soweit wäre.





PS: Falls unter diesem Beitrag Werbung eingeblendet ist, hat WordPress das getan und nicht ich.
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Transkribierte Chatverläufe #01

  • TN01 [Teambegrüßung, formal, ohne Namensnennung]
  • TN02 [Begrüßung von TN01, formal, inkl. Namensnennung und Emoticon #Grin]
  • TN01 [Begrüßung von TN02, informell, inkl. Namensnennung]
  • TN02 [Aussage über das Wetter, inkl. Emoticon #Grin und Gif #AnimalPlayingInSnow]
  • TN03 [Teambegrüßung, formal, ohne Namensnennung]
  • TN02 [Begrüßung von TN03, informell, inkl. Namensnennung und Emoticon #Grin]
  • TN02 [Begrüßungsvariante mit saisonalen Wünschen, inkl. Gif #SeasonalGreetings]
  • TN01 [Aussage mit Informationen über die persönliche Beziehung zur referenzierten Saison, inkl. Emoticon #Sad]
  • TN02 [Reaktion auf Aussage von TN01: Emoticon #Surprise]
  • TN03 [Aussage mit geringem Informationsgehalt über die persönliche Beziehung zur referenzierten Saison]
  • TN02 [Vorschlag an TN01, inkl. Emoticon #Wink]
  • TN01 [Ausdruck von Zweifel an TN02, inkl. Emoticon #Hysterical]
  • TN02 [Generische Floskel mit klischeehaftem Inhalt, inkl. Emoticon #Wink]

Über nicht geschriebene Bücher

Es zerreißt mich. Ich sitze am Schreibtisch und weiß eine Sekunde lang – genau genommen nicht einmal so lange, weil die Gedanken in viel kleineren Zeiteinheiten durch den Kopf rasen – ganz genau, was ich schreiben will. Ich weiß, was ich aussagen, was ich zeigen will, außerdem wie das ginge und was ich dafür tun müsste. Das ist, als fügte sich der Tweet von neulich mit dem Augenblick im Garten vor drei Wochen, der Trennung vor zwölf Jahren und dem Chat vor vier Monaten mit Fetzen meines Manuskriptes zusammen, nur weil ich im Vorbeiscrollen ein Bild gesehen habe. Aber ich kann mich darüber nicht freuen. Nicht wirklich. Nur kurz, genau so kurz etwa, wie ich die Erkenntnis hatte. Kurz ist da das dringende Bedürfnis, mich sofort hinzusetzen und alles genau so aufzuschreiben.

Aber schon drängen von den Gedankenrändern unliebsame Gewissheiten auf mich ein. Es würde lange dauern. Selbst wenn ich heute drei Stunden dafür abknapsen könnte und morgen eine, dann wäre schon wieder ein Tag, an dem ich gar nichts für das Schreiben abknapsen könnte und so ginge das dann weiter. Wochenlang. Monatelang. Ich hab das alles schon mehrfach versucht. Ich weiß, dass mich irgendwann der Alltag wieder aus dem Schreibfluss reißt. Unabhängig davon, wie ich mich und das Umfeld organisiere, welche Tools ich dazu nutze, wie viele Stunden ich täglich oder wöchentlich abknapsen kann, wie viele Seiten lang es dieses Mal gelingt. Irgendwann zwischen Seite zehn und Seite zweihundert passiert es auf jeden Fall und ich gebe auf. Nicht, weil ich altbackenen Vorstellungen vom literarischen Genie in seinem Schreibzimmer nachtrauerte oder unfähig wäre, mich selbst zu organisieren. Nicht, weil es unmöglich wäre. Es wäre absolut möglich. Viele Bücher beweisen das.

Aber ich gebe trotzdem auf, weil das Unterfangen in so kleinen Häppchen für mich ungenießbar wird. Wie eine Lasagne oder ein Schokopudding, von der ich jeden Tag nur einen Löffel essen darf. Da sind die Rüstzeiten, die anfallen, um von der einen Welt in die andere hinüberzugehen. Da sind die Recherchen, die Tabellen, die Sekundärliteratur, die Gespräche. Es ist ein riesiger Berg und ich schaufele jeden Tag nur ein paar Gramm davon weg. Da sind die Unterbrechungen. Und da ist eine so große anschwellende Sehnsucht nach dem Leben in dem Schreiben, nein, in dem Geschriebenen, dass das Leben in der Realität irgendwann dagegen alt und unwichtig aussieht wie eine vertrocknete Lasagne. Ab diesem Moment wird es schwer, sich das Geschriebene weiter auszudenken, während das Reale vor der Tür steht. Weil die Diskrepanz, diese vermaledeite Fallhöhe einfach so groß wird, es ist, als ob ich täglich auf dem Weg zum Manuskript und zurück Jahrhunderte und ganze Bergketten überquerte. Das frisst zu viel Energie. Zumal auch dieses reale, alltägliche Leben das einzige ist, das ich zu haben glaube und es derweil zerfließt, als ob es nichts wäre. Und so kommt der Kipppunkt, der mit den Jahren so frustrierend wird, dass ich gar nicht mehr reagiere, wenn mal wieder einen Moment lang eine neue Welt in meinem Kopf entsteht.

Meisen an einer Futterstelle – eine Beobachtung

Oh, wie niedlich, Meisen!

Da, jetzt hat‘se sich einen Sonnenblumenkern geschnappt!

Wie flink die sind!

Boah, wie viele sind das, zwei, drei… halt, vier!

Warum sind die denn so hektisch beim Fressen? Da würd ich Magenkrämpfe von kriegen.

Herrje, wieso bleibt die nicht einfach mal zehn Sekunden sitzen und frisst ein, zwei Körner in Ruhe? Hier ist doch gar nichts Gefährliches?

Was haben Meisen eigentlich für Sinne? Merken die nicht, dass ihnen hier keine Gefahr droht?

Was kann schon passieren?

Gut, höchstens Katzen. Der Nachbar hat vier Katzen. Katzen fressen auch Meisen, oder?

Aber deshalb muss man ja nicht so hektisch sein. Hier ist ja gerade keine Katze.

Jedenfalls sehe ich keine, hier von meinem Sessel aus.

Naja, vielleicht, wenn das eigene Leben davon abhängt? Vielleicht ist man dann vorsichtiger.

Schraubendrehen

Man geht durch’s Leben und versucht, so viele Parameter wie machbar so nah an die eigene Vorstellung vom guten Leben anzupassen, wie es einem eben möglich ist. Aber es wird nie dauerhaft alles perfekt sein. Das ist der Grund, warum die Utopie an keinem Ort existiert. Weil niemand, kein einzelner Mensch und keine Gesellschaft dauerhaft alle Parameter auf Perfektion stellen kann. Selbst wenn alle genug zu essen, trinken, lieben, ficken und arbeiten haben, wenn niemand zurück gelassen wird und die Biosphäre gesund ist, selbst wenn man nur wertige Wunscharbeit mit den tollsten Lieblingsmenschen macht, wird es Differenzen und Konflikte geben. Es wird Wachstumsschmerzen geben, Missverständnisse und Verluste, immer wieder. Aber nur weil man einen Ort nie erreichen kann, sollte man nicht aufhören, ihn sich vorzustellen und an den Schrauben zu drehen, die ihn in einzelnen Punkten wahr werden lassen. Und mit diesem Rückbau an gutem Leben, wie wir ihn aktuell erleben, sollte man sich schon gar nicht arrangieren, solange man noch einen Funken Lebensenergie in sich hat.

Ungeduld

Die letzte Gabel. Sie hob die Hand zum Mund, simulierte ein Haps-Geräusch, nur ohne den Explosivlaut. Der vierte Zinken blieb im Mundwinkel hängen. Irritiert hielt sie erst inne, bohrte ihn tiefer ins Fleisch, stoppte und korrigierte dann nur widerwillig den Einflugwinkel. Sie schloß die Lippen hinter dem Kartoffelberg und zog die Gabel heraus. Drei, vier hastige Kaubewegungen. Dann los.

Härtungen

Sie war so eine Mutter, die arbiträre Grenzen setzte. Wenn er Spiegelei wollte, dann gab sie ihm manchmal ein Gekochtes. Wollte er ein Käsebrötchen, dann tat sie manchmal mit sichtbar unterdrückter Freude Salami drauf. Der Zweijährige sah sie mit großen enttäuschten Augen an. Mit Bedauern in der Stimme teilte sie ihm mit, man bekäme leider im Leben nicht immer, was man sich wünschte. „Nun iss, und heul nicht wieder gleich, das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Er schrie minutenlang und gab ihr damit eine Gelegenheit, sich für ihre Abhärtungskünste auf die Schulter zu klopfen. Ihrem Kind würden die Kränkungen des Lebens nichts mehr anhaben können, wenn sie mit ihm fertig war. Ihr Junge würde stark sein.

Warten

Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zum Warten. Wie alle anderen hasse ich es, aber ich bin mehr als alle anderen geeignet dafür und kann es wirklich gut. Wer unvermeidliche Wartezeiten nicht überbrücken kann, sollte nicht Bahnpendlerin werden. Ich liebe das gelassene Herumstehen und Daddeln in diesen Lebenspausen. Ich liebe es, mich dadurch von all den herumhetzenden Wichtigmenschen abgrenzen zu können. Ich liebe das darin Alleinesein, Unwichtigsein. Vielleicht ist es das Nichts-zur Beschleunigung-beitragen-Können, das sich dabei so gut anfühlt. Ich kann nicht machen, dass die U-Bahn schneller kommt, der Polizeieinsatz beendet, die Lok schneller bereitgestellt, der umgefallene Baum schneller abtransportiert wird. Ich kann nur warten und meine Zeit als freie Zeit begreifen, in der ich lesen, hören, beobachten, denken und einfach stehen kann. Aber Warten ist auch gefährlich. Zu viele Stunden und Tage habe ich damit verbracht mir vorzustellen, wie Dinge passieren und wie es sich anfühlen wird, wenn sie passieren. Was ich dann sagen, welche Handbewegungen ich machen, wie ich meinen Kopf schief legen und ihn anlächeln würde, wenn er tatsächlich endlich wirklich käme. Der Mann. Der Moment. Die Chance. Das Angebot. Der Erfolg. Der Mut.

Dæmon

„Ich lebe in einer Gesellschaft, die meine kognitiven Fähigkeiten kaum abfragt, aber aufgrund meiner kommunikativen und sozialen Fähigkeiten falsche Rückschlüsse auf meine Intelligenz zieht. Mein Dæmon ist der Wurm, der euren Boden selbst dann noch auflockert, wenn ihr ihn vergiftet habt. Das ist ein Beispiel für Intertextualität. Eure Welt ist mir zu schnell, zu laut, zu langsam, zu eng, zu brutal. An manchen Tagen stelle ich mir vor, wie ich ganz allein in die Wälder gehe und mich diesem ständigen Zwang, sozialverträglich zu interagieren, endlich entziehe, um genug Zeit zu haben, die Dinge nur ein einziges Mal so tief zu durchdenken, dass ich das Gefühl bekomme, sie verstanden zu haben. Doch leider bin ich nicht so dumm zu glauben, ein Mensch könne sich alleine auf sich gestellt schneller entwickeln, als in der Horde. Vieles wäre leichter, wenn ich so dumm wäre.“

Privilegien

M: „Ich verstehe die Mächtigen und Privilegierten nicht. Wenn ich Privilegien habe – und ich habe ein paar – will ich immer, dass alle anderen sie auch kriegen. Weil sie mein Leben so viel angenehmer machen, gönne ich sie allen anderen auch. Dafür kämpfe ich dann unter Zurhilfenahme meiner eigenen, vorhandenen Privilegien.“

H: „Das scheint mir keine weit verbreitete Sichtweise unter Privilegierten zu sein.“

M: „Nein. Sie denken eher, dass sie sich das verdient hätten oder sind vollständig blind dafür, dass sie welche haben. Und wenn man sie darauf hinweist, ist ihre Initialreaktion die Defensive, als ob man ihnen etwas wegnehmen wollte, dessen Existenz sie aber zeitgleich bestreiten.“

H: „Schrödigers Privilegien.“

A: „Nein, nein, sie wissen schon, dass sie welche haben. Sie wissen, dass sie zu spät zur Arbeit kommen können und keine Abmahnung riskieren. Sie wissen, dass sie krank sein können und niemand kündigt ihnen sofort. Sie wissen, dass sie Rücklagen haben und nicht sofort obdachlos werden, wenn mal für ein paar Monate kein Geld reinkommt. Sie wissen genau, dass es bei anderen Menschen anders ist. Aber ihr Gefühl raunt ihnen zu, dass sie das von anderen unterscheidet und sie wollen das Gefühl nicht verlieren, mehr Freiheiten zu haben.“

M: „Es ist noch schlimmer. Sie wollen den Ball flach halten. Sie wollen sich nicht sichtbar und laut dafür einsetzen, dass strukturelle Ungerechtigkeiten aufgelöst werden und andere die gleichen Freiheiten bekommen, weil sie Angst haben, jemand nimmt ihnen dann ihre weg.“

H: „To accept discomfort for growth…“

M: „Persönlicher discomfort für gesellschaftlichen growth.“

A: „Aber wenn nicht mal die laut werden, die das Risiko tragen könnten, woher soll dann dieser sagenumwobene qualitative gesellschaftliche growth kommen?“

H: „Aus diesem Weinglas. Ich erhebe es auf all die ungenutzten Privilegien, die wie untrainierte Muskeln am Gesellschaftskorpus herumwabbeln!“